Under the Influence

Impulse Theater Biennale 2013 zeigt herausragende Arbeiten der deutschsprachigen freien Theaterszene. Genauer: der freien Theaterszene im deutschsprachigen Raum. Was aber bedeutet es, diesen Auftrag ernst zu nehmen? Was sind die Gründe für eine solche Begrenzung, was ihre Konsequenzen? Produzieren die kulturellen, sozialen oder auch nur die finanziellen Bedingungen in Deutschland, Schweiz, Österreich wirklich eine andere Kunst als etwa in Frankreich oder Spanien? Und weitergehend: Sind deutsch diejenigen, die deutsch sprechen? Die in Deutschland leben? Die in Deutschland ihr Theater machen?

Was dazu gehört, wo die Grenzen sind, wo das Land anfängt und wo es aufhört, das galt zwei Jahrhunderte lang als „Die deutsche Frage“. Was mit Kleinstaaterei anfing, dann im Größenwahn zerbrach und in anderer Form wieder zusammengefügt wurde, ist nun in einer anderen Frage aufgegangen: der europäischen. Und wieder geht es darum, wo die Grenzen sind, wo das Gebiet anfängt und wo es aufhört. Um die Mittel des Zusammenhalts. Und darum, was bleibt von Deutschland. Was bleiben sollte. Und was nicht.

Impulse geht 2013 thematisch von diesen Überlegungen aus, um die eigenen Bedingungen zu überprüfen. Die Frage nach kultureller Identität, geopolitischer Ein- und Ausgrenzungen, der Rolle von Sprache und sozialen, aber auch finanziellen Kontexten ist eine weitaus größere: Welchen Stellenwert haben nationale Identitäten – welchen Stellenwert sollen sie haben, in einem Europa, in einer Welt, die rasanten, scheinbar kaum steuerbaren Entwicklungen ausgeliefert ist. Und: wie werden diese Identitäten gebildet, wozu dienen sie? Welche Utopien, welche Antworten können wir selbst entwickeln? Aktiv und nicht nur als Getriebene?

Das deutsche Staatsbürgerrecht basiert noch immer vor allem auf biologischer Herkunft; welchen Pass die Eltern haben, entscheidet vornehmlich über die eigene Staatsangehörigkeit. Andere Modelle, wie beispielsweise der USA, stellen den Ort der Geburt in den Vordergrund. In beiden Fällen aber ist noch immer deutlich, dass Nation vom lateinischen natio kommt und durch die Geburt bestimmt wird. Während vor wenigen Jahren noch post-nationales Denken en vogue war, scheint nun das Konzept der Nation – im Wesentlichen eine Erfindung des 18. und 19. Jahrhunderts – mit voller Wucht zurückzukehren.

Am Schlagbaum finden oft auch Kultur und Sprache ihre Grenzen. Und noch immer ist Kulturpolitik auch Geopolitik, sei es durch an Außenministerien angegliederte Kulturinstitute, sei es durch Förderstrukturen, aber auch durch Nationaltheater und Museen. Dabei scheint die eigene kulturelle Identität für viele durch die kulturelle Identität anderer bedroht zu sein: Bücher wie Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ – mit knapp 1,5 Millionen Exemplaren das bestverkaufte Sachbuch seit Ende des Zweiten Weltkriegs – zeugen von der Angst, dass Minderheiten uns bestimmen könnten. Das mögliche Aussterben der eigenen Kultur wird zum politisch nutzbaren Bedrohungsszenario.

Dennoch gibt es Tradierungen, die über die relativ junge Geschichte der Nationalstaaten weit hinausgehen und auf der Ebene von Sprache regionale Kontinuitäten zeigen, die über Generationen identitätsbildend wirken. Während also einerseits kulturelle Identität durch Abwanderung und Einwanderung, durch verschiedenste Einflüsse gebildet wird, zeigt sich in Untersuchungen zur Phylogenetik der Sprachen, dass unterhalb der Ebene des Wortwandels Sprachen über einen extrem langen Zeitraum miteinander verwandt bleiben, auch wenn man es ihnen nicht mehr anhören mag.

Daneben lautet ja die gängige Behauptung von Dichtern und Denkern: Manches kann man nur auf Deutsch sagen, oder eben auf Englisch, Türkisch, Russisch oder gar im Dialekt einer ausgestorbenen Sprache. Haben Kulturen bestimmte Grammatiken, hat künstlerischer Ausdruck aus einem bestimmten Kulturraum ein eigenes Metrum – eine Struktur, die auch in nicht-wortsprachlichen Kunstwerken aufspürbar wäre, in Choreografien, Fotos, Gemälden, Installationen, Kompositionen? Stehen wir auf Seiten bedrohter Sprachen oder träumen wir von einem neuen Esperanto – und sei es nur unser begrenztes international English, das auch im Theater immer öfter zur rudimentären lingua franca wird?

Als Johann Gottlieb Fichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine „Reden an die deutsche Nation“ hielt, war das eine Kampfansage gegen die französische Besatzung. Heute sind die Abhängigkeiten weniger leicht durchschaubar und wirkliche politische Veränderung scheint durch einen gesamteuropäischen oder gar globalen Klientelismus verhindert zu werden. Vielleicht brauchen wir weniger eine Narration der Geschichte als eine Archäologie des Klientelismus in Deutschland. Eine akribische Abtragung der Schichten von Verbindlichkeiten, die eine demokratische Lösung auch der finanziellen Probleme unserer Zeit verunmöglichen. Unter Einfluss stehen hier letztlich alle, unter Verdacht sowieso.

Impulse Theater Biennale 2013 diskutiert ganz konkret am Beispiel Deutschlands, Österreichs und der Schweiz die Einflüsse, die aus allen Richtungen kommend das prägen, was später als authentisches Heimatgefühl wahrgenommen wird. Verbindungen und Verbindlichkeiten, Narrationen und Nationen, Diaspora und Landnahme – welche Bedeutungen haben diese Konzepte heute? Welche Einflüsse sorgen für das typisch deutsche (österreichische, Schweizer) Gefühl, allgemeiner für das Gefühl einer kulturellen Identität, Zugehörigkeit, Verwurzelung? Impulse Theater Biennale 2013 stellt die deutsche Frage noch einmal neu – und damit die Frage nach der eigenen territorialen Auswahllogik und Begrenzung. Und zeigt, selbst beeinflusst, Theater, Tanz, Kunst, Theorie under the influence. An zehn Tagen, in vier Städten, in verschiedenen Sprachen und Ästhetiken.